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Wage den start

Achterbahn des Anfangs

    von Sabriye Tenberken

    Vor einigen Jahren überhörte ich ein Gespräch zwischen meinem Bruder und meiner Mutter. Meine Mutter hatte sich Stifte, Pinsel und Farben besorgt, eine Leinwand aufgespannt und wollte nun mit dem Malen beginnen. Doch da war die Angst vor dem Start, die Angst davor, die makellose, weiße Leinwand zu verschandeln. Mein Bruder ist Künstler und unterrichtet Zeichnen, Malen und Kunst-Installationen. Er kannte diese Anfangsangst von seinen Studenten und vielleicht auch aus eigener Erfahrung. “Nicht lange nachdenken”, meinte er. Kurzerhand gab er meiner Mutter einen Stift in die Hand und brachte sie dazu einfach loszukritzeln. Die Leinwand war nun nicht mehr sauber und unberührt und die Hemmschwelle, loszulegen war damit überwunden.

    Ich habe diesen kleinen, aber sehr wirksamen Trick auf den Beginn eines Projektes übertragen. Nicht lange nachdenken, was alles schieflaufen könnte, einfach anfangen und daraus mehr werden lassen. Und tatsächlich, es funktioniert! Diejenigen, die den Mut haben, einfach loszulegen, erleben oft, dass sich die so überwundene Angst vom Anfang in eine Art Euphorie umwandeln läßt und viele erfahren, dass jeder Start, wenn man ihm nur eine Chance gibt, unter einer magischen Spannung steht.

    Aus aktuellem Anlass, denn 16 unserer kantharis haben ihre betreute dreimonatige Startphase in der letzten Woche abgeschlossen, möchte ich in diesem Blog die Magie des Anfangs untersuchen. Dafür nutze ich auch Reflexionen eines unserer Teilnehmer. Es handelt sich um Biman Roy, einen kanthari aus dem letzten Jahrgang, der mit seiner Organisation BON in seinem Heimatdorf im indischen Westbengal, die traditionellen Bauern zu einer umweltschonenden und gesünderen Landwirtschaft bewegen möchte.

    Biman hat einen interessanten Lebensweg hinter sich. Er stammt aus einem abgelegenen Dorf. Als Kind bestand sein Spielplatz aus Dschungel, Feldern, Bächen und schlammigen Teichen, in denen sich Kinder und Büffel gleicher Maßen suhlten. Dann kam er in die Schule und seine mathematische Begabung ebnete ihm den Weg durch Universitäten in Indien und Schweden, wo er schließlich seinen Doktor in Computer Wissenschaften machte. Doch während der gesamten Studienzeit, zwischen Computern und mathematischen Konzepten, vergass er nie die Leidenschaft für die “Wildness” seiner Heimat, die Mannigfaltigkeit der Früchte, Kräuter und Gemüsesorten und die schattigen uralten Bäume. 2021 war er so weit. Er ließ Europa und die Träume seiner Eltern, er würde irgendwann ein Professor für Mathematik werden, hinter sich und kehrte, mit einem siebenmonatigen Zwischenstopp im kanthari Institut, in seine Heimat zurück.

    Biman ist ein Zauderer. Er denkt zu viel und seine detaillierten Analysen stehen seinen Aktionen oft im Weg. Daher gab ich ihm den Rat: “Egal was du tust, fang einfach an.” Er folgte diesem Rat und stürzte sich gleich nach den Abschlussreden in Aktivitäten. Gemeinsam mit Akhina, ebenfalls einer Teilnehmerin der letzten Generation, reiste er von Kerala nach Odissa und besuchte unterwegs verschiedene Projekte. In Odissa traf er sich mit kanthari Absolventen, die ihm von ihren Startphasen erzählten. Einer von ihnen war Karthik, Gründer von Sristi Village, einem heute sehr erfolgreichen Projekt. Karthik kehrte unmittelbar nach kanthari erst einmal in seinen alten Job als Leiter eines Waisenheims zurück. Das sei aber keine gute Idee gewesen. Erklärte er den frisch gebackenen kantharis. Denn das große Selbstbewusstsein, dass er während der Monate im kanthari Institut aufgebaut hatte, sei durch seinen wieder hergestellten Alltagstrott völlig in sich zusammengefallen. Dazu gesellte sich die Skepsis von Familienangehörigen, Freunden und Kollegen. Karthik erlebte eine Depression, aus der er sich erst durch die Umsetzung seiner Projekt-Ideen befreien konnte. “Fangt so schnell wie möglich an und seht zu, dass ihr eure Hochstimmung in die Startphase hinüberrettet. Ihr werdet sie brauchen. Denn jeder Beginn ist eine Achterbahn!”

    biman planzt saatgut

    Nach drei Monaten, in denen die kantharis durch Ehemalige in ihren Anfängen begleitet werden, verfassen sie einen Abschlussbericht. Diese Berichte sind sehr spannend zu lesen, sie geben uns einen tiefen Einblick in die Lebensumstände jedes Einzelnen und sie geben Aufschluss über die emotionale Stärke, mit der sie die vielen Hindernisse überwinden und die mannigfaltigen Probleme lösen.

    Besonders Biman’s Bericht spiegelt die Achterbahn des Anfangs, die wir, Projekt Initiatoren alle kennen, in sehr eindrücklicher Weise wider. Hier ein kleiner Auszug:

    “Wenn ich auf mein dreimonatigen Projekt Beginn zurückblicke, dann sehe ich in mir drei unterschiedliche Persönlichkeiten:

    1. Der Enthusiast (Januar, erster Monat): Am Anfang war ich unheimlich aufgeregt und dem entsprechend überaktiv. Ich habe online meine Projekte vorgestellt, mich mit potenziellen Begünstigten getroffen, ich habe versucht, meine Organisation zu registrieren, bin umhergefahren, um organisches Material und diverse Gemüsesaht zu sammeln und habe den Boden für die ersten Pflanzungen vorbereitet. Ich war von morgens bis abends beschäftigt, und in meiner Vorstellung war ich davon überzeugt, dass ich alles, was ich mir erträumt hatte, auch erreichen kann. Doch dann setzte die Realität ein.
    2. Der Pessimist (Februar bis Mitte März): Die Leute, mit denen ich zusammenarbeiten wollte, waren nicht so motiviert, die Saat ging nicht richtig auf, ich konnte viele Fragen nach meinen Erklärungen und öffentlichen Auftritten nicht wirklich beantworten, die Registrierung meiner Organisation Bon ging nicht voran, denn bürokratisch war es ein einziges Durcheinander, und und und. Ich verlor sehr schnell meine Motivation und mein Selbstvertrauen ging den Bach runter! Hier war ich wieder einmal, “Mr. Overthinker”, ich war verwirrt darüber, was ich eigentlich tun wollte!
    3. Der “Sag niemals nie”-Typ (Mitte März bis heute): Nach vielem Hin und Her, nach Selbstzweifeln und Selbstreflexionen scheint es, dass ich einfach handeln muss, ohne zu viel nachzudenken. Es ist genau wie Sabriye mir immer geraten hat. Anstatt mich auf 100 Dinge zu konzentrieren, habe ich beschlossen, mich vorerst nur auf ein Thema zu fokussieren, nämlich auf die Einrichtung von drei Modellgärten. Und das zahlt sich bisher gut aus. Es bringt mich wieder auf den richtigen Weg.”

    In diesen Tagen ist Biman in Schweden, Dänemark und Deutschland unterwegs. Er spricht zu Studentengruppen, zu Umweltaktivisten und er knüpft wertvolle Kontakte mit potenziellen Unterstützern.

    Seine Pläne für das nächste Jahr sind klar:

    1. Drei Modellgärten, um die Menschen davon zu überzeugen, dass man auf wenig Grund, mit wenig Mitteln viele unterschiedliche Gemüsesorten pflanzen kann.
    2. Acht Kurzfilme in lokalen Sprachen, um Bauern einen Einblick in erfolgreiche ökologische Landwirtschaft zu vermitteln,
    3. Eine Dorfküche, in der mit ganz neuen natürlichen Nahrungsmitteln experimentiert werden soll, um den Appetit der Menschen auf abwechslungsreiche Nahrung zu fördern.

    Und wie stehen Deine Eltern zu all dem?

    Biman lacht. “Nun im Prinzip verstehen sie mich und meine Beweggründe. Aber natürlich sind sie auch typisch indische Eltern, die sich Sorgen machen und es nicht gutheißen, dass ein Doktor der Mathematik mit einer Fahrradkarre durchs Dorf fährt, um trockenes Laub für den Kompost zu sammeln.”

    Nun, Die Achterbahn hat ihre erste große Runde beendet, die Leinwand ist für Biman bereits bekritzelt, jetzt ist es an ihm, mehr daraus zu machen.

     

     

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